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INTERVENTION UND AGGRESSION

 

Leboyer-Baby

Wenn sich zwei ein Kind wünschen und um die Bedeutung der frühen Lebensphasen wissen, werden sie von Anfang mit der nötigen Sorgfalt "zu Werke gehen". Wenn in den zukünftigen Eltern eine frühe Erinnerung an Liebe vorhanden ist, wenn ihre Belastung durch frühen Schmerz gering ist, werden sie instinktiv das Richtige tun. Aber auch unter den gegebenen Voraussetzungen einer Gesellschaft, in der die meisten wenig Liebe und viel Schmerz und Entbehrung erfahren hatten, ließen sich durch eine allgemeine Bewusstwerdung positive Veränderungen erzielen.  Gesundheitspolitik müsste ganz früh im menschlichen Leben ansetzen.

Das würde bedeuten, dass die Intimsphäre zwischen Mutter und Kind in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Monaten danach besser geschützt werden muss. Das impliziert zum einen "allgemeine Aufklärung". Vielleicht muss man vielen Leuten explizit erklären, dass sich das Verhalten einer schwangeren Frau auf ihren Fetus auswirkt, vielleicht denken sie wirklich, der Minimensch sei da drinnen vor allem absolut geschützt. Lise Eliot, Neurobiologin und Mutter dreier Kinder, sagt in ihrem Buch "Was geht da drinnen vor?" , dass in den USA die Zahl der Frauen steigt, die sich in der Schwangerschaft sorgfältig ernähren und auf Zigaretten und Alkohol verzichten. Der Anteil der Babys mit geringem Geburtsgewicht (unter 2,5 kg) sei zwischen 1970 und 1988 von 16 auf 6 Prozent gesunken. Das zeigt, dass eine entsprechende staatliche Gesundheitspolitik durchaus Früchte trägt und zu verantwortungsvollerem Verhalten in der Bevölkerung führt, und es demonstriert, wie wichtig Betreuung in der Schwangerschaft ist, nicht die Betreuung mittels Apparate und Untersuchungstermine, sondern durch eine - idealerweise mit medizinischem  Fachwissen ausgerüstete - geburtserfahrene "Person des Vertrauens", die in der Lage ist, die eventuelle Angst der werdenden Mutter vor einer normalen, natürlichen Geburt zu reduzieren und alle Probleme und Besorgnisse der Schwangeren in empathischer und fachkompetenter Weise zu besprechen.

Folgt man Odent und auch Rockenschaub, bedeutet der Schutz der Intimspäre auch, dass die moderne Medizin in den Hintergrund tritt und ihr routinemäßiges Eingreifen in den Schwangerschafts- und Geburtsverlauf auf die seltenen Fälle reduziert, in denen eine Intervention tatsächlich notwendig ist. Odent legt dar, dass sich das Eingreifen in den Geburtsvorgang oder das Intervenieren unmittelbar nach der Geburt bei den meisten Völkern auf diesem Planeten beobachten ließ und lässt, auch bei vielen der sogenannten "primitiven." Als Extrembeispiel nennt er die alten Spartaner, die männliche Neugeborene gleich nach der Geburt auf den Boden warfen, um deren Tauglichkeit zu testen. Überlebten sie die Prozedur, galten sie als zukünftige "gute Krieger." Odent sieht in diesem Intervenieren eine wesentliche Wurzel für Aggression und Gewalt in der Erwachsenengesellschaft. 

Er glaubt, das Ziel dieses Eingreifens sei es immer gewesen, eine intensive Mutter-Kind-Bindung und somit Sanftmut und Liebesfähigkeit in den Mitgliedern einer Gesellschaft zu verhindern und die Aggressionsbereitschaft zum Zwecke des Überlebens zu fördern. Der Rückblick in die Jahrtausende der Geschichte zeigt, dass dieses Ziel fast immer übertroffen wurde. Es scheint nie einen Mangel an kriegslüsternen Gestalten gegeben zu haben, die willig waren, sich unter der Befehlsgewalt eines Führers zusammenzurotten und unter Zuhilfenahme von allerlei zweckdienlichen technischen Erfindungen auf friedliche Zeitgenossen loszugehen, oder sich in ausdauernden Duellen mit ebenso kriegslüsternen Kontrahenten einer Gegenpartei um Kopf, Kragen oder Gliedmaßen zu bringen, wobei man fairerweise anfügen sollte, dass es vermutlich oft nicht Aggressionslust war, sondern pure Existenznot und nicht zu unterschätzende Gruppenzwänge, die so manchen dazu brachten, in den Krieg zu ziehen. Manche Biologen sehen in Kriegen ganz einfach biologische Reduktionsmechanismen, deren Funktion im Allgemeinen darin besteht, die Anzahl der Individuen einer Spezies in gewissen Grenzen zu halten. 

In der berichteten Geschichte der Zivilisation scheint die Eroberung und das Beherrschen der Natur und anderer Völker ein wesentlicher Kernpunkt zu sein. Aggression und Krieg waren über die Jahrhunderte so selbstverständlich, dass nur wenige es wagten, deren Sinn und Zweck in Frage zu stellen. Auch heute ist eine solche Dimension des Krieges, dass  Hunderttausende oder Millionen eines Volkes in oder ohne Uniformen  innerhalb  oder außerhalb der Heimat über andere Leute herzufallen, die ihnen nichts getan haben und einfach nur leben wollen, jederzeit denkbar und möglich. Es gibt genug Beispiele in jüngerer Vergangenheit. Nichtsdestotrotz scheint an Stelle weltübergreifender Massengemetzel  heute zunehmend die gezielte militärische Intervention zum Zwecke der "Befreiung" und "Demokratisierung" von "tyrannisierten" Völkern in Mode zu kommen, die eigentlich gar nicht um Hilfe gebeten haben. 

Grundsätzlich besteht immer  die Gefahr, dass man depravierten Individuen, in deren Gehirnen sich viel Urschmerz und Urwut vom Lebensanfang und aus der Kindheit angesammelt hat, leicht vormachen kann, der Grund für seine/ihre Misere sei der böse "Ausländer", der Russe, Amerikaner, Deutsche, Franzose, Engländer, Chinese, Jude, der Moslem, der Ungläubige, der Bolschewik, der Kommunist, der Kapitalist, der Faschist oder wer oder was auch immer. Die Fähigkeit, aggressiv und wütend zu reagieren, gehört ebenso zum genetisch verankerten biologischen Repertoire des Menschen wie seine Fähigkeit zu Sanftmut und Liebe. Aber ob jemand in der Gegenwart angemessen reagiert oder in die eine oder andere Richtung völlig überzogen, das hängt auch von seinen eingeprägten frühen Erfahrungen ab. 

Wenn sich Leute zusammenrotten, die ein hohes Maß an eingeprägter Wut in sich tragen und deren Affektkontrollmechanismen aufgrund früher Traumen beschädigt sind, dann kann es sehr schnell gefährlich werden. Laut einem Artikel des Magazins Stern (Nr. 11, 2005, s. 50) gehen Kriminologen davon aus, dass in Deutschland mindestens 1000 Kinder in den vergangenen 10 Jahren so schwer misshandelt oder vernachlässigt wurden, dass sie an den Folgen starben. Jetzt kommen aber, so der Stern, nach einer Unicef-Studie auf einen Fall von Kindstötung "mehrere hundert belegte Fälle schwerer Misshandlungen, die oft traumatische Folgen haben." Rechnet man zu diesen Fällen pro belegten Fall ein Vielfaches nicht belegter Fälle tagtäglicher psychischer und körperlicher Gewalt gegen Kinder hinzu, dann lässt sich leicht ausmalen, was sich hierzulande hinter verschlossenen Türen abspielt und welches Aggressionspotential sich hier zusammenbrauen kann. Die Vorstellung, dass die Anfänge gespeicherter Wut bis zur Geburt oder noch weiter zurückreichen können, scheint den meisten wahrscheinlich absurd, ist aber ein gemeinsamer Nenner vieler therapeutischer Geburts-Wiedererlebnisse:

"Eine der emotionalen Folgen langer, schwerer Wehen ist ein allgemeines Gefühl der Wut und der Widerspenstigkeit. Viele Patienten berichten von dieser wahnsinnigen Frustration, nicht hinauszukönnen - sie macht das Kind einfach wütend. Es benutzte seine Wut, um sich seinen Weg hinaus zu erkämpfen, und seine Wut brachte es durch. Man kann diese wütenden Bewegungen bei Geburts-Primals sehen: ein wildes Umsichschlagen und Zähneknirschen, unbeherrschte Körperbewegungen und den Ausdruck von Wut in den Gesichtern der Patienten. Die Wut ist lebensrettend." 

[Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 270]

 

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"Zorn ist mein Leben lang meine Abwehr gewesen. Er begann im Mutterschoß als ein Mittel, am Leben zu bleiben. Tatsächlich war diese Aggressivität das einzige, was mich am Leben erhielt. Ich kämpfte und rang darum, mich bei der Geburt verständlich zu machen  zu verstehen zu geben, daß ich starb. Später begann ich zu denken, daß meine Mutter sehr dumm ist. Aber immer, wenn irgendwer etwas tut, was mir dumm vorkommt, werde ich einfach verrückt. Ich werde wütend, wenn mich jemand nicht auf der Stelle versteht." 

[Eine primärtherapeutische Patientin, zitiert in Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 22]

 

 

 
     
 

Quellen:  Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984

                Odent, Im Einklang mit der Natur, Patmos/Walter, Düsseldorf, 2004

                Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?, Berlin-Verlag, 2001  

 

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